Ein Vater
schlägt seine Familie – und niemand schreitet ein. Dann beschliesst die Mutter
zu sterben
Eine
junge Frau nimmt sich im Aargauer Fricktal das Leben. Sie hinterlässt fünf
Kinder. Eine Geschichte über Gewalt in der Familie, Streit um Kinder und das
Versagen von Justiz, Behörden und Psychiatrie.
Peter Hossli 23.02.2019, 21.45
Uhr
Ein Steinkreuz im Fricktal, in
der Nähe von Andreas Wohnort. Pascal Mora
Kurz vor
Weihnachten gibt Andrea Herzog* ihrem Vater ein Versprechen, das sie brechen
wird. «Nein, Papi, ich tue mir nichts an», beteuert sie am Abend des
15. Dezember 2018. Sie wisse gar nicht, wie man das mache. «Für meine
Kinder», sagt sie, «will ich immer da sein.»
Drei Tage
später, an einem Dienstagabend, schneidet ihr Vater eine dicke Nylonschnur
durch, die an einer Wasserleitung an der Decke hängt. Auf dem Garagenboden
beatmet er seine Tochter. «Andrea chum retour, chum retour», sagt er, drückt auf ihren Brustkorb, massiert
ihr Herz.
Andrea
kommt nicht retour. Sie ist schon tot, als ihr Vater sie findet. Mit Blaulicht
und Sirenengeheul fährt eine Ambulanz vor das Haus im Fricktal, im Nordwesten
des Kantons Aargau. Bald ist die Polizei vor Ort, die Spurensicherung, der
Staatsanwalt, eine Gerichtsmedizinerin. «Ist das Ihre Tochter?», fragt ein
Polizist Kurt Herzog*, 71. «Ja, das ist Andrea, meine Tochter, da bin ich ganz
sicher.»
Die
Behörden schliessen Fremdeinwirkung aus. Es ist ein Suizid. Einen
Abschiedsbrief hinterlässt die 37-Jährige nicht. Zurück bleiben ihre fünf
Kinder, zwei Mädchen und drei Buben. Die älteste ist zehn Jahre alt, der
jüngste drei.
Fünf Tage vor ihrem Freitod
erhält Andrea einen Brief des Familiengerichts im Bezirk Laufenburg:
Ihre Kinder bleiben vorerst in der Obhut des Vaters, bei jenem Mann, von dem
sie sich im Sommer 2018 nach zehn Jahren Ehe amtlich getrennt hat. Weil er die
Kinder und sie geschlagen sowie psychische Gewalt ausgeübt hat, jähzornig
gewesen ist und ihr bei der Erziehung kaum geholfen hat.
Das
Gericht gewichtet jedoch gesundheitliche Bedenken gegenüber der Mutter höher
als die Gefahr, dass der Vater erneut gewalttätig werden könnte.
Andrea Privat
Auf einem
Bauernhof im Fricktal ist Andrea gross geworden, in der Nähe eines
1000-Seelen-Dorfs am Fusse des Benkerjochs. Sanfte
Hügel und hochstämmige Bäume prägen die Landschaft. Die Beizen heissen Rössli,
Adler, Rebstock, Pinte. Senf kommt aus der Tube, Salatsauce aus der
Plastikflasche. An mancher Weggabelung steht ein Steinkreuz mit einem gold-
oder bronzefarbenen Jesus.
Vom Dorf
erreicht man den Hof zu Fuss in einer halben Stunde. Andreas Mutter Ines
Herzog*, 66, trägt Spinat- und Chäschuechli auf, dazu
Wienerli und Brot. «Meine Tochter ging, weil man ihr
die Kinder weggenommen hat», sagt sie und giesst Tee ein. Sie selber hat vier
Kinder zur Welt gebracht. «Einer Mutter nimmt man die Kinder nicht weg.»
Vor ihr
auf dem Stubentisch liegt das erstinstanzliche Urteil des Familiengerichts Laufenburg, 47 Seiten, datiert am 10. Dezember 2018.
«Die Kinder werden unter die Obhut des Vaters gestellt», schreibt darin der
Gerichtspräsident.
In der Hochzeitsnacht schreit er
sie an. Sie fürchtet, den Falschen geheiratet zu haben.
Die
Geschichte, welche die Familie Herzog über die nächsten Wochen erzählen wird,
handelt von häuslicher Gewalt und Demütigung, psychischen Zusammenbrüchen und
menschlicher Kälte, und von Beiständen, Psychiatern und Behörden, die zu spät,
falsch oder gar nicht eingegriffen haben.
Sie
ereignet sich in einer Umgebung, in der wegen emotionalen Bindungen Dinge
zugelassen werden, die unsere Gesellschaft sonst nicht toleriert: in der
Familie.
Was die
Eltern berichten, wird durch die Akten auf dem Stubentisch bestätigt; das
Gerichtsurteil, psychiatrische Gutachten und Berichte der Kesb,
der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde.
Daneben
liegen Fotos einer einst glücklichen Familie, dazu E-Mails, die Andrea in den letzten
Monaten verschickt hat. Sie erzählen davon, was Andrea den Eltern über ihre Ehe
berichtet hat.
Als
unbeschwertes Mädchen beschreiben die Herzogs ihre Tochter. Mit 14 will sie
kein Töffli, sie will ein Pferd. Die Beziehung zum Vater ist innig. «Andrea
vertraute mir», sagt Kurt Herzog. Als einziges Mädchen geht sie in eine Klasse
mit neun Buben. Sie lernt gerne, spielt Schwyzerörgeli, geht ins Judo, tobt
sich im Wald aus. Ihre Noten hätten für die Kantonsschule gereicht.
Aber
Andrea will mit den Händen arbeiten und lernt Bäcker-Konditorin. Als
Kantonsbeste schliesst sie im Juli 2000 ab, sie verbringt in Amerika sechs
Monate auf einer Ranch mit Pferden und Rindern, verbessert ihr Französisch in
Frankreich, absolviert die Bäuerinnenschule. Im
Winter jobbt sie in den Bergen.
Am Unspunnenfest 2006 in Interlaken trifft sie Bruno*, einen
gelernten Landwirt, ein Jahr älter als sie, der auf einem Hof in einem engen
Ort im Fricktal aufgewachsen ist. «Hier fliegen die Krähen rücklings, damit sie
das Elend im Dorf nicht anschauen müssen», heisst es über die Ortschaft.
Andrea
verliebt sich in ihn, will Kinder mit ihm. Vier, fünf, vielleicht sechs. Was
sie nicht weiss, worüber aber beim Coiffeur und im Lädeli
gesprochen wird: Bruno stammt aus einer Familie, in der es Gewalt gibt. Er
selbst erlebte sie als Kind.
Sie wird
schwanger. Kirchlich korrekt heiratet das Paar im Frühling 2008. Es ist ein
schönes Fest, bis am Abend. Andrea ist müde, hat Kopfschmerzen und will mit
ihrem Mann allein sein. Bruno feiert und lässt sie bis 2 Uhr warten. Im
Hotelzimmer schreit er sie an. Sie fürchtet, den Falschen geheiratet zu haben.
«Nicht einmal aus dem Hochzeitskleid hat er mir geholfen», berichtet Andrea
Jahre später ihrer Mutter.
In der
Trachtengruppe erzählt der Vater später von der Hochzeit der jüngsten Tochter.
«Was, sie hat diesen ‹verruckten Siech› geheiratet?»,
fragt ihn eine Frau. Kurt erschrickt, er hat Bruno als «flotten jungen Mann»
erlebt.
unten - die Eltern von Andrea oberhalb des Hauses, in dem ihre Tochter zuletzt gewohnt hat. Foto Pascal Morat
Das Paar zieht in eine
Dreizimmerwohnung. Nach der Geburt von Lola* hört Andrea auf zu arbeiten. Bruno
verdient das Geld als Informatiker und ist selten zu Hause. Schreit Lola, nervt
ihn das. Er schlägt das Baby auf den Hintern und sagt: «Jetzt weisst du, warum
du schreist.»
Ein Jahr später kommt Guido* zur Welt. Der Kleine trinkt zu wenig und
verliert viel Gewicht. «Jetzt suuf ändlich», schreit der Vater. Dass sein Sohn ausgemergelt
aussieht, nimmt er nicht ernst. Schliesslich muss
Guido im Spital mit einer
Magensonde ernährt werden. Das überforderte Paar besucht einen Erziehungskurs.
Der Hausarzt, der Brunos Familie kennt, rät ihm: «Entweder gehst du in eine
Gewalttherapie, oder ihr trennt euch.»
Nachbarn
der Familie erzählen, was sie damals gehört haben. Wie Bruno «böse Namen und
Schimpfwörter» geschrien und mit Kleiderbügeln auf den Esstisch geschlagen
habe, wie er Gegenstände herumwarf und kaputtmachte.
Einmal
klingelt Andrea bei einer Nachbarin und bittet sie, das Telefon benutzen zu
dürfen. Sie will ihren Vater anrufen, aber in einem Wutanfall hat Bruno alle
Telefonkabel zerrissen. «Komm, er startet durch», bittet Andrea ihren Vater.
Der eilt herbei und sieht, wie Bruno wütet. «Ich vergebe dir diesen einen
Ausraster», mahnt er den Schwiegersohn. «Aber das darf nie mehr passieren.»
Erstmals
denkt Andrea an eine Trennung. Sie will aber keine Scheidungskinder. Und sie
liebt ihn ja. Ihre emotionale Bindung zu ihm lässt weiterhin zu, was ihr der
Verstand untersagt. Ihre Schwiegermutter ersucht sie zu bleiben. «Bruno hat
viel Wut in sich», sagt sie. «Jetzt kommt diese Wut raus, du bist der goldene
Schlüssel, Andrea. Du kannst Bruno heilen.» Sie verspricht, ihr alles zu
bezahlen, was ihr Sohn zertrümmert.
Die junge
Familie zieht auf einen kleinen Hof. Bruno beginnt eine Gewalttherapie. Später
wird er gegenüber den Behörden sagen, sie sei «wenig gewinnbringend verlaufen».
Das dritte Kind ist ein Mädchen, Judith*, das vierte, ein Knabe, Jakob*. Alle
glauben nun, die Familie sei auf gutem Weg.
Bruno packt Guido, der aus Angst
in die Hose macht. Er schleudert zuerst ihn und dann Jakob durch die Stube.
Während
der fünften Schwangerschaft gibt Bruno seiner Frau schmerzhafte Kopfnüsse. Sie
schämt sich lange, davon zu erzählen. Schliesslich kommt Lukas* zur Welt. Die
Familie ist gross geworden. Andrea stürzt in eine postnatale Depression. Drei
Monate verbringt sie in der Frauenklinik am Meissenberg
in Zug.
Bald nach
Andreas Heimkehr zieht die Grossfamilie in eine Gemeinde bei Bern. Sie erwerben
ein kleines Haus, von dem die Kinder zu Fuss in die Rudolf-Steiner-Schule
können. Den Eltern ist es wichtig, ihre Buben und Mädchen anthroposophisch zu
erziehen.
Es geht
nicht gut in Bern. An einem Sonntag, am 22. Oktober 2017, eskaliert ein
Streit zwischen Vater und Kindern. Bruno packt Guido, der aus Angst in die Hose
macht. Er schleudert zuerst ihn und dann Jakob durch die Stube. Judith stösst
sich den Kopf. Andrea hört die Schreie der Kinder, stellt Bruno zur Rede und
stürzt die Treppe hinunter.
Am Montag
erzählt Judith im Kindergarten davon. Die Schule füllt am 24. Oktober 2017
die Meldung einer «eventuellen Kindswohlgefährdung» bei der Kesb
des Kantons Bern aus. «Der Vater habe sie und ihre zwei Geschwister Guido und
Jakob aufs Sofa geschleudert», wird als Aussage von Judith aktenkundig.
«Der Papa
habe sie schon mehrmals geschlagen und Guido habe auch schon sichtbare Abdrücke
der Hand auf dem Körper gehabt.» Das Mädchen erzählt, ihre Mutter habe sich
beim Sturz «am Rücken und Bein» verletzt. «Die Eltern hätten sich sehr
gestritten.»
Telefonisch
bestätigt Andrea den Vorfall gegenüber der Kesb. Sie
fügt an, sie sei nicht gestürzt, sondern von ihrem Mann die Treppe
hinuntergestossen worden. Aktenkundig wird auch Andreas Aussage, wonach es
schon früher Gewaltvorfälle gegeben habe und ihr Mann deswegen während dreier
Jahre in Therapie gewesen sei.
Häusliche
Gewalt ist in der Schweiz seit 2004 ein Offizialdelikt. Die Behörden müssten es
untersuchen und verfolgen. Eine Vertreterin der Kesb
besucht zweimal die Familie, redet mit den Kindern und mit Andrea und Bruno.
Die
Mutter hofft auf einen Bericht, in dem der Missbrauch durch den Vater
dokumentiert wird, dass die Kesb durchgreift. Und sie
hofft, dass die Staatsanwaltschaft ein Verfahren einleitet.
Doch viel
passiert nicht. Die Kesb empfiehlt Bruno einzig, eine
Selbsthilfegruppe für gewalttätige Männer zu besuchen. Was er tut. Wie oft er
hingeht, wird von niemandem kontrolliert. «Wir können zu konkreten Fällen nicht
Stellung nehmen», sagt die Kesb Mittelland Nord
heute.
In einem
längeren Telefongespräch bestätigt Bruno, was in der Berner Gemeinde passiert
ist. «Aber ich habe Andrea nicht die Treppe hinuntergestossen, wir sind
zusammen gefallen.» Später habe die Vertreterin der Kesb
«keine meiner Aussagen in den Bericht einfliessen lassen». Sein Gegenbericht
sei «zur Kenntnis genommen, aber nicht weiter berücksichtig worden».
Ja, gibt
Bruno zu, es sei in zehn Ehejahren immer wieder zu Gewalt in der Familie
gekommen. «Ich spreche mich nicht frei von Fehlern. Mir hat manchmal die Ruhe
und die Gelassenheit gefehlt.» Aber die Gewalt sei nie wirklich abgeklärt
worden. «Der Vorwurf reichte, und ich war bei den Behörden abgestempelt.»
In einem
zweiten Gespräch sagt er, wofür es in den Akten keinerlei Hinweise gibt und
womit er sich zum Opfer macht: «Die Gewalt ist hauptsächlich von meiner Frau
ausgegangen.»
Anfang
2018 kommt Andrea aufgrund von Depressionen erneut in die Frauenklinik nach
Zug. Bruno besucht sie nicht. «Er hat ihr nicht geholfen, er hat ihr immer
gesagt, schau dir selber - als ob er sie verhungern lassen würde», sagt Kurt
Herzog in seiner Stube über den Schwiegersohn.
Im
Frühling wird Andrea mit schwerem Durchfall in eine Klinik in Meiringen eingeliefert. Die Ärzte raten ihr, sie soll sich
trennen. Dem Gespräch, bei dem die Trennung besprochen werden soll, bleibt ihr
Mann fern.
In Handschellen gefesselt
Bruno
übernimmt die Kinderbetreuung, was ihn überfordert, wie die Kinder- und
Erwachsenenschutzbehörde Kesb später feststellen
wird: «In der Zeit häuften sich die Gewaltvorfälle den Kindern gegenüber.»
Heute
sagt er, die psychiatrischen Klinken, die Andrea
behandelten, hätten ihn nie nach seiner Meinung gefragt. Zudem habe er sich
echte Hilfe gewünscht. «Ich konnte nie adäquat mit Andreas Krankheit umgehen.
Sie hat mich überfordert.»
Am 9.
Juli 2018 nimmt Andrea die Kinder und geht auf den Hof zu ihren Eltern.
Vordergründig, um mit Lola, Guido, Judith, Jakob und Lukas im Fricktal die
Sommerferien zu verbringen. Tatsächlich ist es eine Flucht. Sie nimmt Bargeld
und alle Ausweise mit.
«Ich habe
es endlich geschafft», sagt sie bei der Ankunft. «Ich bin von diesem Mann
weggekommen.» Mit einem Satz beschreibt sie ihre Ehe: «Ich habe immer in Angst
gelebt.» Bruno teilt sie mit, sie bleibe im Fricktal.
Das Haus, in dem Andrea zuletzt
gewohnt hat.
Pascal
Mora
Sechshundert Meter vom Hof
entfernt mietet Andrea ein Haus. Es liegt auf dem Gebiet der Gemeinde H.,
bezugsbereit ab Mitte September. Nach den Sommerferien besuchen die Kinder die
Dorfschule. Unter den 130 Schülerinnen und Schülern fühlen sie sich wohl.
Seit
August 2018 läuft am Bezirksgericht Laufenburg ein
Eheschutzverfahren. Darin werden Trennung, Unterhalt und Obhut geregelt. In die
Akten gelangen psychiatrische Gutachten über die Mutter und ein Kesb-Bericht über das Gewaltpotenzial des Vaters.
Andrea
ist nicht stabil. Zwar hat ihr die Klinik geholfen, den Umzug in den Aargau zu
organisieren. Aber eine psychiatrische Begleitung hielten die Ärzte nicht für
nötig. «Andrea hat zehn Jahre Spannungen erduldet, jetzt war sie im luftleeren
Raum», sagt ihre Mutter Ines. Sie stellt fest, dass ihre Tochter anfängt
abzuheben. Sie wirkt überdreht. Die Mutter alarmiert Andreas Psychiaterin.
Am 13.
September 2018 feiert sie ihren 37. und letzten Geburtstag. Sie fängt an,
Umzugskisten zu packen, Freunde mit Autos und Lieferwagen aufzubieten. Es folgt
ein zweitägiger Umzug ins eigene Haus. Andrea schläft kaum, isst kaum, arbeitet
viel, ist überlastet.
Per Whatsapp schickt sie am Samstagmorgen eine konfuse
Sprachnachricht. Ihre Schwester fährt zu ihr - und trifft ein Chaos an. Offene
Fenster, weinende Kinder, eine aufgedrehte, übermüdete Mutter. Andrea ruft die
Polizei, nimmt die Kinder und rennt mit ihnen über einen Kiesweg Richtung Dorf.
Als die
Polizei kommt, setzt sie sich auf die Strasse und befiehlt den Kindern, sich an
ihr festzuklammern. Andrea schreit: «Wer hilft dieser traumatisierten Mutter
mit fünf Kindern?»
Die
Polizei bittet den Grossvater, die Kinder von der Mutter zu lösen und sie
wegzubringen. Zuletzt liegt Andrea in Handschellen gefesselt auf dem Bauch.
Ihre Psychiaterin verordnet eine fürsorgliche Einweisung in die psychiatrische
Klinik Königsfelden in Windisch.
Am Montag
gehen die Kinder zur Schule. Verwandte von Bruno nehmen sie zwischenzeitlich
bei sich auf. Die Jugend- und Familienberatungsstelle Laufenburg
bestellt einen Beistand und legt fest: «Die Kinder besuchen, sowie sie schul-
oder kindergartenpflichtig sind, bis auf weiteres die Schulen oder den
Kindergarten in H.»
Der
Beistand erlaubt es Bruno, mit den Kindern in die Herbstferien in den Kanton
Bern zu fahren. Nach den Ferien sollten sie wieder im Fricktal zur Schule
gehen. Derweil organisieren Ines und Kurt Herzog eine Haushaltshilfe, damit
ihre Enkel bei ihnen wohnen können, bis Andrea aus der Klinik kommt.
Fricktal in der Nähe von Andreas
letztem Wohnort.
Pascal
Mora
Am
Sonntag vor Schulanfang, am 14. Oktober 2018, hätte Bruno die Kinder
zurückbringen sollen. Er erscheint nicht. «Wo sind Lola, Guido und Judith?»,
fragen Kameraden an der Schule. Zuerst heisst es, sie seien am Zügeln. Später,
sie kämen nicht mehr. Dabei sind sie in H. angemeldet und müssten dort zur
Schule. «Der Gerichtspräsident persönlich hat die Kinder vom Unterricht
entschuldigt», sagt heute die Schulleiterin.
Entgegen
dem Beschluss der Familienberatungsstelle zieht Bruno in einen anderen Kanton.
Mit seinen Kindern lebt er zeitweilig zu sechst in einem einzigen Zimmer bei
einer befreundeten Familie. «Weil die Kinder in zwei Haushalte aufgeteilt
werden sollten, entschied ich mich kurzfristig, sie nicht ins Fricktal zu
bringen», sagt der Vater heute. «Die Kinder mussten zusammen bleiben.» Beistand
und Gericht habe er darüber informiert. Sie liessen ihn gewähren.
Davon
weiss Andrea nichts. Ihr verspricht der Beistand, ihre Kinder zurückzuholen.
Doch das Familiengericht entscheidet sich dagegen, da ihnen kein weiterer
Polizeieinsatz zuzumuten sei. Während fünf Wochen besuchen die Kinder keine
Schule.
Weder die
Aargauer Behörden noch die Behörden im neuen Kanton schreiten ein. Der Beistand
der Kinder besucht den neuen Wohnort nie und überprüft nicht, wie sie dort
leben. Eine Bekannte von Bruno, eine Australierin, betreut sie, während er
arbeitet. Sie spricht kaum Deutsch und muss nach drei eigenen Kindern schauen.
Am 5. November
2018 wird Andrea aus der Klinik entlassen. «Aus unserer Sicht ist die Patientin
mit einer weiterführenden Behandlung durch Hometreatment
aus unserer Akutstation entlassungsfähig und momentan in der Lage, sich um ihre
fünf Kinder zu sorgen», befindet man in Königsfelden.
Gleichwohl
entscheidet das Familiengericht am 6. November, die Kinder sollen vorerst in
die Obhut von Bruno gehören. Andrea versteht nicht, warum ihr
Gesundheitszustand höher gewichtet wird als die Gewaltbereitschaft ihres
Mannes.
Die
Mutter ist nun alleine im grossen Haus. Sie sieht
ihre Kinder kaum noch, da Bruno sich offenbar nicht an die Abmachungen ihres
Besuchsrechts hält und sie selten rechtzeitig zu ihr bringt. Mit einer Anwältin
kämpft sie um ihre Kinder. Sie sollen nicht bei einem Mann leben, den sie als
gewalttätig erlebt hat.
Warum sie
das so lange toleriert hat, schreibt sie am 22. November in einer Mail an ihre
Anwältin. «Wie bei Gewaltopfern üblich, habe ich aus Scham- und Schuldgefühlen
meinen Mann nicht angezeigt, und aus Angst vor seiner grausamen Reaktion.»
Ein
Kinderpsychiater erstellt zuhanden des Gerichts ein Gutachten und spricht
Andrea die Fähigkeit ab, ihre Kinder zu betreuen. Zwar nimmt er die häusliche
Gewalt des Vaters zur Kenntnis, geht aber nicht konkret darauf ein: «Auf
Nachfrage zu den Vorwürfen der Mutter über seine Gewaltausbrüche hat er mir
offen berichtet, wie es dazu gekommen ist und in welchem Umfang diese
stattgefunden haben.»
Der K.-o.-Schlag
Mit dem
Kindswohl erklärt Andreas Anwältin am 27. November dem Gericht, warum Bruno die
Obhut zu entziehen sei. «Die Betreuung von acht Kindern durch eine einzige
Tagesmutter ist nicht vorschriftsgemäss und deshalb auf Dauer nicht möglich.»
Und: «Von einer stabilen und kindswohlgerechten Betreuungssituation kann daher
vorliegend nicht die Rede sein.»
Gesundheitlich
sei Andrea stabil, sie könne die Kinder betreuen. Es bestehe kein Grund, das
von Andrea und Bruno vereinbarte und seit zehn Jahren gelebte Familienmodell zu
ändern: «Die Kindsmutter als Hauptbezugsperson der Kinder, der Kindsvater als
Ernährer der Familie.»
Ihre
Argumente greifen nicht. Das Familiengericht spricht Bruno am 10. Dezember 2018
die Obhut der Kinder zu. Es stützt sich unter anderem auf eine Diagnose der
Klinik Königsfelden, wonach die Mutter an einer «bipolaren Störung mit
gegenwärtig manischer Episode ohne psychotische Symptome» leide. Andrea sei
nicht in der Lage, «für ihre fünf Kinder adäquat zu sorgen».
Erwähnt,
aber weniger stark gewichtet werden im Urteil die häusliche Gewalt und die
Rolle der Mutter als Hauptbezugsperson. Bruno gebe zu, «dass er Wutanfälle
hatte und Dinge ‹rumschmiss›». Mehrmals sei der Vater «gegenüber ihr und den
Kindern gewalttätig gewesen», heisst es. «Insbesondere wenn sie sich in einer
Klinik befunden habe, sei es mehrmals zu Gewalttätigkeiten gekommen.»
Zwar habe
sich die gesundheitliche Situation der Mutter stabilisiert, argumentierte der
Richter. Doch die Strukturen, die Stabilität und die Konstanz für die Kinder
seien «zurzeit eher beim Vater gegeben». Der Mutter räumt das Gericht ein
Besuchsrecht ein, das in «ein längerfristiges Betreuungskonzept beider Eltern
zu überführen» sei.
Andrea
erhält das Urteil am 13. Dezember. Es zerlegt ihr Selbstwertgefühl und stürzt
sie in tiefe Traurigkeit. Sie war zuletzt zuversichtlich gewesen und hatte sich
eine Haushaltshilfe organisiert für die Zeit, in der die Kinder wieder bei ihr
wären.
«Das
Gerichtsurteil war für Andrea der K.-o.-Schlag», erinnert sich ihr Vater. «Sie
hatte Angst um ihre Kinder.» Adam Herzog*, 41, Landwirt und der Bruder von
Andrea, sagt: «Bringe ich ein hinkendes Säuli ins
Schlachthaus, stehen am nächsten Tag Polizei und Tierschutz im Haus. Hier
werden fünf Kinder einem Mann zugesprochen, der aktenkundig als gewalttätig
gilt.»
Für einen
Rekurs bleiben zehn Tage. Ein pensionierter Lehrer und Freund der Familie
stellt mit Andrea eine Liste von Argumenten zusammen, die sie am
Verwaltungsgericht einreichen soll.
«Jetzt, wo meine Schwester tot ist,
schaut ihr sofort hin», sagt Adam Herzog, als die Behörden eintreffen.
Am
Sonntag, 16. Dezember 2018 fahren Andrea und ihre Eltern in Brunos Wohnort.
Lola, die älteste Tochter, nimmt am Nachmittag an einem Krippenspiel teil. Es
kommt zu einem lauten Streit zwischen Bruno und Ines. Fluchworte fallen. Ohne
sich von Andrea zu verabschieden, nimmt Bruno die Kinder und geht. Sie werden
ihre Mutter nicht mehr lebend sehen.
Am Montag
trägt Andrea mit ihrem Vater fauliges Laub zusammen. «Es tat ihr gut, draussen
zu arbeiten», sagt Kurt. Am Nachmittag setzt sie sich an den Computer und
bittet ihre Anwältin per Mail, bei der ehemaligen Psychiaterin ihres Mannes
einen Bericht über dessen Behandlung einzufordern, «damit wir da eine
Bestätigung der Gewalt haben. Die Kindesmisshandlungen sind erneut zu
beachten.»
Sie weist
auch auf die Gefährdungsmeldung hin, die wegen ihres Mannes gemacht wurde.
Essen mag Andrea an diesem Abend nichts mehr. «Ich bin nur noch eine Hülle, ich
bin ganz leer», sagt sie ihrer Mutter.
Am
Dienstag um 18 Uhr ist sie zu einem Essen verabredet. Um 18 Uhr 30 ruft ihre
Freundin bei Ines und Kurt Herzog an und fragt nach Andrea. Sie war um 14 Uhr
54 zuletzt auf Whatsapp, erkennt ihr Vater und holt
bei Andreas Vermieter den Hausschlüssel.
Kein Licht
brennt. Die Fenster sind verziert mit Weihnachtsschmuck, die Wohnung ist aufgeräumt,
verpackte Weihnachtsgeschenke liegen in der Küche. «Andrea, wo bisch?», ruft er und geht von Zimmer zu Zimmer.
Er sieht
ihre Schuhe und den Rucksack, betritt die Garage und findet seine Tochter.
«Jetzt, wo meine Schwester tot ist, schaut ihr sofort hin», sagt Adam Herzog,
als die Behörden eintreffen. «Als sie noch lebte, schaute keiner hin.»
Das Haus, in dem Andrea zuletzt gewohnt hat
und gestorben ist.
Pascal Mora -->
Auf
Anfrage drückt das Bezirksgericht Laufenburg seine
Anteilnahme aus. «Wir sind betroffen und bedauern zutiefst, was vorgefallen
ist», sagt die Sprecherin der Gerichte des Kantons Aargau. Eheschutzverfahren
seien nicht öffentlich. Daher dürfe sich das Gericht zum Fall nicht äussern.
Bei strittiger elterlicher Obhut wäge das Gericht stets «sämtliche Argumente,
die von beiden Eltern vorgebracht werden, sorgfältig gegeneinander» ab.
Massgebend
bei Entscheiden sei das Kindeswohl. Zu beantworten sei «die schwierige Frage,
welcher Elternteil zurzeit die bessere Gewähr bietet, für die Kinder angemessen
zu sorgen». Der nicht obhutsberechtigte Elternteil
solle «von Anfang an Kontakt zu den Kindern haben».
Gesellschaft
wie Gesetzgeber erwarteten, «dass beide Eltern gemeinsam und partnerschaftlich
für die Kinder sorgen». Genau das sei hier aufgegleist worden. «Die Obhut war
dem Vater der Kinder zugeteilt worden», sagt die Sprecherin. «Die Betreuung der
Kinder war indessen so ausgestaltet, dass die Mutter diese im Laufe der Zeit
mehrheitlich hätte übernehmen sollen. Sie wurde im Hinblick auf dieses Ziel
auch unterstützt.»
Am 22.
Dezember wird Andrea Herzog im Fricktal beigesetzt. Die Kinder, die in den
Tagen zuvor den Sarg ihrer Mutter bemalt haben, sollen am Trauermahl im
«Ochsen» teilnehmen. So ist es ausgemacht. Nach der Beerdigung nimmt Bruno alle
fünf zu sich. In den «Ochsen» dürfen sie nicht. «Sie haben Angst vor euch»,
sagt er zu Andreas Familie und geht.
Am
Telefon sagt Bruno später, die Kinder würden «erstaunlich gut» mit dem Tod
ihrer Mutter umgehen. «Sie haben wieder klare Verhältnisse. Sie sind nicht mehr
zerrissen. Sie sind an einem Ort zu Hause. Es gibt Kontinuität. Das macht es
einfacher.» Auf Andrea habe er «keinen Groll». «Sie war die Liebe meines
Lebens. Und sie ist die Mutter meiner Kinder. Sie sollen sie immer schätzen und
ehren.»
Bei sich
zu Hause im Fricktal stellt Ines Herzog ein halbes Dutzend Mohrenköpfe auf den
Tisch. Es ist Mitte Februar 2019. Seit der Beerdigung haben die Herzogs ihre
Enkel nicht mehr gesehen. Wie es ihnen geht, wissen sie nicht. Mit einer neuen
Anwältin ziehen sie vor Gericht. «Wir wollen ein Besuchsrecht für die Kinder
und die Rehabilitation von Andrea erwirken», sagt der Grossvater.
Andreas
Bruder Adam ist der Götti von Guido und sagt: «Ich will nicht, dass Guido in
ein paar Jahren vor meiner Tür steht und mich fragt: ‹Götti, warum hast du mich
nicht früher zu dir geholt?›»
Wie diese Reportage entstand
Für die
vorliegende Reportage hat der Reporter Peter Hossli sieben Wochen lang
recherchiert. Er führte mit den Eltern der Verstorbenen mehrere lange
Gespräche. Von ihnen hat er sämtliche Akten der Justiz, der Behörden und der
Psychiatrie sowie den E-Mail-Verkehr ihrer Tochter erhalten.
Wie diese Reportage entstand
Der
Grossteil der Informationen hat er diesen Unterlagen entnommen. Andere
Informationen stammen von den Eltern, ihrer Schwester und dem Bruder und sind
von ihnen autorisiert worden. Tonaufnahmen aus diesen Gesprächen sind in der
Online-Version dieses Artikels zu hören.
Auch mit
dem Ehemann führte Hossli mehrere Gespräche und legte ihm die Zitate vor. Die
Bilder von Andrea und ihrer Eltern zeigen wir auf ausdrücklichen Wunsch der
Eltern. Alle Namen und Orte hingegen wurden anonymisiert beziehungsweise
weggelassen, um die Persönlichkeit der Kinder und des Ehemannes zu schützen.